THEODOR W. ADORNO / An seinem 100. Geburtstag ist der Philosoph so aktuell wie nie zuvor
In der falschen Gesellschaft
Er war einer der großen kritischen Theoretiker des letzten Jahrhunderts. Doch in seinem Denken blieb der Skeptiker stets ein Ästhet.
TIEFBLICK: Seine Gedanken lösten große Debatten aus. Am 11.9.1903 wurde Adorno geboren.
Autor: GÜNTER SEUBOLD
Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen.“ – Wer von den akademischen Philosophen wagte es heute, solch einen Satz zu publizieren? Und wer könnte, sollte er ihn denn publizieren, für die Konsequenzen einstehen, die solch eine Erfahrung vom Denken fordert? Für solch einen Satz ist man heute zu diszipliniert. Man denkt in begrenztem Horizont.
Heute ist der eine Ethiker oder gar nur noch Bio-Ethiker, der andere Ästhetiker oder gar nur noch Musikästhetiker, der andere wiederum Philosophiehistoriker oder gar nur noch für das Mittelalter zuständig. Eine Erfahrung wie die Adornos aber ist eine Erfahrung des „Ganzen“. Will das Denken ihr gerecht werden, muss es ebenfalls aufs Ganze gehen. Bei Adorno ist das Ganze, in dem dieser Satz platziert ist, die Kultur, der Ausschluss und das Barbarische der Kultur, letztlich mit „Auschwitz“ benannt: „Auschwitz hat das Misslingen der Kultur unwiderleglich bewiesen.“ Adorno ging aufs Ganze, wie noch jeder Philosoph vor ihm, der den Namen verdient. Heute dagegen operiert man in Sparten. War Adorno der letzte der Philosophen?
Fest steht jedenfalls, dass der 1903 als Sohn des vom Judentum zum Protestantismus konvertierten Weingroßhändlers Oscar Wiesengrund und der Sängerin Maria Calvelli-Adorno della Piana, katholischer Konfession, einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts war. Zusammen mit Horkheimer war er der wichtigste Vertreter der „Kritischen Theorie“ oder „Frankfurter Schule“. Aber auch als Soziologe, Musikkritiker und Komponist machte er sich einen Namen. 1934 emigrierte er nach Großbritannien, 1938 in die USA, wo sich am Institut für Sozialforschung vor allem die enge Zusammenarbeit mit Max Horkheimer als fruchtbar erwies. 1949 kehrte er nach Frankfurt zurück, lehrte an der Universität Philosophie und Soziologie und wurde Kodirektor des Instituts für Sozialforschung.
Den Tönen nachhorchen, wohin sie wollen
Beeinflusst von seinem Lehrer Hans Cornelius, vertrat Adorno zunächst eine philosophische Position zwischen Neukantianismus und Phänomenologie. Doch kündigte sich bereits in seinen frühen Frankfurter Opern- und Konzertkritiken die eigenständige Sichtweise an, die sein späteres Philosophieren bestimmen sollte. Diese Kritiken dürfen daher als Wiege der Philosophie Adornos gelten. Freilich waren auch die Begegnung und Freundschaft mit Walter Benjamin und sein Kompositionsstudium bei Alban Berg bedeutsam. Zuvor hatten ihn zudem Georg Lukács „Theorie des Romans“ sowie Ernst Blochs „Geist der Utopie“ stark beeindruckt.
Begegnungen solcher Art ermöglichten Adorno die Vermittlung seiner ästhetischen Interessen mit seinen philosophischen Intentionen. Die wohl wichtigsten Begriffe dieser Philosophie sind klassisch geworden und haben geradezu Schlagwortcharakter gewonnen: „Dialektik der Aufklärung“, „das Nicht- identische“, „Negative Dialektik“, „Der Essay als Form“. Mit ihnen kritisiert Adorno ein allgemein-begriffliches, identifizierendes und die bestehenden kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse affirmierendes Denken und eine positiv-technisch-wissenschaftliche Methode. Anstatt das Besondere und Individuelle an Natur und Mensch gelten zu lassen, deformiere das klassifizierende Denken das Besondere zum Zwecke der Herrschaft des Menschen über sich und die Natur. Sei die abendländische Rationalität angetreten, um die Herrschaft des Menschen über die Natur zu ermöglichen, so finde sie ihr vorläufiges Ende erst in den Gewaltorgien des Faschismus, Stalinismus sowie den nicht weniger manipulativen Methoden des liberalen Kapitalismus und der Unterhaltungsindustrie.
Die Kritik dieser Welt- und Selbsterschließung treibt Adorno aber nicht zur Verachtung der Rationalität und zur Weltflucht, sondern zum Beistand mit dem durch technische Vernunft Unterdrückten. Es gelte, an den ursprünglichen Intentionen der Aufklärung festzuhalten – unter schärfster Kritik freilich ihrer gegenwärtigen Manifestationen. Das heißt für das essayistische und aphoristische Denken: „Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“
Die Keimzelle dieses im umfassenden Sinne ästhetischen Denkens ist die Musikästhetik. In der Musik hat Adorno seine ästhetischen Erfahrungen gesammelt, und hier war er auch selbst als Künstler tätig. Dass er in Schönberg den Komponisten gesehen haben soll, ist eine Mär, die selbst Leute verbreiten, die ihren Adorno kennen müssten. Schönberg sah er zwar als authentischen Künstler, doch hielt er die Zwölftontechnik für die falsche Antwort auf die Probleme modernen Komponierens: Der Nerv von Adornos Philosophie der Musik liegt in einer „in-formellen“, das heißt das abendländische Form-Inhalt-Schema sprengenden Ästhetik.
Schönberg hatte das traditionelle Schema bestätigt. Freiheit aber ist in der informellen Ästhetik nicht die willkürliche Herrschaft über das „Material“. „Den Tönen nachhorchen, wohin sie von sich aus wollen“ – das war für Adorno die Utopie, an der er als Theoretiker festhielt und als Komponist letztlich scheiterte: Nach 1946 hörte er auf zu komponieren. In der befreiten Kunst sah er ein „Modell möglicher Praxis“, aber für einen partei- oder tagespolitischen Theoretiker war sein Denken zu differenziert, nicht pragmatistisch genug. Die Realisierung der ästhetischen Utopie auch auf sozialem Feld schloss er nicht aus, doch sah er hierfür die Zeit noch nicht gekommen.
Kampf gegen die Kulturindustrie
Das war der eigentliche Grund für die Missverständnisse, Reibungen und Verwerfungen mit der Studentenbewegung. Mit seiner Philosophie der Negation konnte er sich zwar gegen die Notstandsgesetze aussprechen, aber aus der Negation folgte keine neue Position, wie bei den Studenten, die weit mehr Hegelianer oder Marxisten waren als Adorniten. Gegen den Aktionismus der Studenten war sein letztes Wort: „Schwache, Verängstigte fühlen sich stark, wenn sie rennend sich an den Händen halten. Das ist der reale Umschlagspunkt in Irrationalismus.“
Auch heute noch mutet dieses Denken dem Leser einiges zu. Und doch scheinen sich manche seiner Diagnosen erst jetzt ganz zu erfüllen. Das gilt etwa für seine Invektiven gegen das, was er „Kulturindustrie“ nannte. Der Begriff steht für einen Zustand, in dem es nur noch „Kulturwaren“ gibt, die von „Lieferanten“ an „Konsumenten“ zu bringen sind. Dies geschieht am wirkungsvollsten dadurch, dass die Kulturprodukte auf Unterhaltung, Genuss und Spaß zielen – auf Kosten des Wahrheitsmoments.
Man will Spaß haben, und das kann man offensichtlich nur, wenn man immer wieder allein mit Altbekanntem konfrontiert wird - und nicht mit unangenehmen Wahrheiten. Wer möchte schon konsumieren, was ihm nicht schmeckt!
Die Krankheit des Lachens
Dabei will Adorno keinesfalls die „hohe Kultur“ gegen die „niedere“ ins Feld führen. Im Gegenteil: Wenn die hohe Kultur gegen den Kitsch wettere, dann spreche aus ihr nur das schlechte Gewissen. Eine „hohe“ oder „ernste“ Kultur ist nach Adorno schon dadurch unwahr, dass sie viele vorkulturelle und fremdkulturelle Erfahrungen ausschließt, anstatt sie aufzunehmen und zu reflektieren. Er selbst hätte die Hochkultur beispielsweise gerne irritiert gesehen durch die in der Kindheit gemachten Erfahrungen mit dem Abdecker oder mit Worten wie „Luderbach“ und „Schweinstiege“.
Für viele der Heutigen, auch für seine vorgeblichen Freunde, ist Adorno mit seiner „permanenten universalisierten Kritik“ ein Miesepeter, der den anderen den Spaß verderben wolle, den er selbst offenbar nicht gefunden habe. So spricht sich Adorno beispielsweise kategorisch gegen das kulturindustriell produzierte Lachen aus: „Lachen, einst Bild von Humanität, wird zum Rückfall in die Unmenschlichkeit.“ Heiterkeit, Lachen, Spaß – das unterliegt nach Adorno einer historischen Dynamik, deren Zeit spätestens im 20. Jahrhundert abgelaufen ist. Scherzen wir nicht über den Gräbern der Millionen Exekutierten? Erwirtschaftet unsere Lebensmittelindustrie nicht ihre Gewinne auf dem Rücken der leidenden Kreatur?
„In der falschen Gesellschaft hat Lachen als Krankheit das Glück befallen und zieht es in ihre nichtswürdige Totalität hinein. Das Lachen über etwas ist allemal das Verlachen.“ Diese Degeneration des Lachens zum Verlachen hat sich heute in einem Ausmaß gesteigert, wie es sich wohl noch nicht einmal Adorno hat träumen lassen. Das Fernsehen potenziert eine Art von „Spaß“, der nicht nur geschmacklos und fade ist, sondern auch verwerflich und, seit neuestem, sogar justiziabel.
So lässt sich vermuten, dass Adornos Denken nicht nur nicht veraltet ist, sondern dass es seine Aktualität noch nicht einmal ganz hat dartun können. Warten wir also die weitere Entwicklung der „Kultur“ ab. Wenn Deutschland seinen Superstar übers Fernsehen sucht – warum dann nicht auch seinen Bundeskanzler oder wenigstens Bundespräsidenten, der doch der Liebling von allen sein soll? Die vielen Adorno-Überwinder, die es heute gibt, könnten sich bald vollends erweisen als die, die weit hinter seinem Denken zurückgeblieben sind.
Der Autor lehrt Philosophie an der Universität Bonn. In Kürze erscheint von ihm „Kreative Zerstörung. Theodor W. Adornos musikphilosophisches Vermächtnis“.
Zum Weiterlesen
- Theodor W. Adorno: Kindheit in Amorbach. Insel Taschenbuch, Frankfurt/Main 2003. 250 Seiten, 9,50 EUR.
- Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2003. 478 Seiten, 26,90 EUR.
- Adorno. Eine Bildmonographie. Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003. 309 Seiten, 24,90 EUR.
- Lorenz Jäger: Adorno. Eine politische Biographie. Deutsche Verlagsanstalt, München 2003. 318 Seiten, 22,90 EUR.
- Stefan Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003. 1032 Seiten, 29,90 EUR.